OT: Kimen, 1940
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller
238 Seiten,€ 24 [D] | € 24,70 [A]
Gebunden, fadengeheftet und mit Lesebändchen
ISBN 978-3-945370-39-1

Der Keim

Tarjei Vesaas

Tarjei Vesaas (1897–1970) beschreibt in »Der Keim« eine Gruppe von Inselbewohnern, die eine verschworene Gemeinschaft bilden. Ein Neuankömmling auf der Insel bricht in dieses fest gefügte familiäre Miteinander ein und wirft einen dunklen Schatten auf den sonnigen Sommertag. Sein triebhafter Wahnsinn lässt ihn zum Mörder werden – der Mord führt unvermeidlich zu einem zweiten, und die ganze Insel lädt Schuld auf sich. Vesaas schrieb »Der Keim« 1940, einige Jahre vor seinen berühmten Romanen, und leitete nach einem naturalistischen Frühwerk damit die Phase symbolstarker, poetisch verknappter Prosa mit enormer psychologischer Intensität ein. Im Hintergrund klingt noch der traditionelle skandinavische Kollektivroman der Zwischenkriegszeit an. Besonderen Reiz gewinnt das Buch durch sein Entstehungsjahr: 1940 befindet sich Norwegen unter nazideutscher Okkupation, der düstere Eindringling und die Reaktion der Gemeinschaft stehen unter politischen Vorzeichen.

Kein zweiter Autor ist in der Lage, das Unbeschriebene und Unausgesprochene mit solch einer Spannung aufzuladen wie Tarjei Vesaas. Und kein zweiter Autor kann sich derart in seine Figuren einfühlen und eine Nähe erzeugen, die einen bei der Lektüre geradezu körperlich erfasst. Vesaas’ sparsame, aber umso eindringlichere Erzählweise lässt jede einzelne Szene, jeden Satz und jede innere Regung zum Ereignis werden, und Hinrich Schmidt-Henkel gelingt in der Übersetzung das Kunststück, dieses filigrane Spiel von Andeutung und Auslassung, von Zurückhaltung und Übersprungshandlung haarfein nachzubilden.

»Vesaas will Verborgenes offenlegen, aber seine Bücher sind nicht okkult, sondern analytisch. […] Der Roman bietet Katharsis, aber keinen Trost. […] Vesaas’ Prosa ist einzigartig. ›Der Keim‹ ein gewissermaßen vollendeter unvollkommener Roman.«

Peter Urban-Halle, Berliner Zeitung

»Dieses Buch trägt alle Zeichen von Vesaas’ Kunst: die einfache Komposition, die verdichtete Sprache, die stilisierte Szenerie. Das ist meisterhaft, magnetisch – und erweckt zugleich den Eindruck eines Versuchs. Seine realistische Prosa ist symbolistisch geprägt, das ist eher reizvoll; manche Passage wirkt wie aus einem frühen existenzialistischen Roman. Ein Fragment ist es nicht, der Roman ist vollendet, aber eben nicht vollkommen; manchmal sind da nur Begriffe, Notizen, angetippte Charaktere, unvermittelte Stimmungswechsel. Aber auch deshalb ist Vesaas’ Prosa einzigartig. ›Der Keim‹ ist ein gewissermassen vollendeter unvollkommener Roman.«

Peter Urban-Halle, Neue Zürcher Zeitung

»Tarjei Vesaas versteht es meisterhaft, seine einfache Erzählung komplex zu strukturieren und zu inszenieren: im richtigen Moment weiß der auktoriale Erzähler, wann Innensicht aus der Perspektive seiner Figuren angebracht ist. (…) ›Der Keim‹ ist ein Buch, das wie aus der Zeit gefallen wirkt, wuchtig und zugleich dezent erzählt, voller Spannung und voller Provokation.«

Erich Klein, ORF Ex libris

»Die symbolstarke, poetisch verknappte Prosa des Erzählers macht uns Leser atemlos. Mit intensiver Spannung lädt der Autor das Unausgesprochene und Unbeschriebene auf. Er fühlt sich in seine Figuren ein und erzeigt auf diese Weise eine Nähe, die uns Leser körperlich erfasst. (…) Dieser traurig-schöne Roman lässt sich auch als Gesang des ewig schuldigen Menschen lesen auf der Suche nach Vergebung. Unschuld ist hier und da keine Option. Wohl aber die aus der Schuld heraus geborene Chance, einen neuen gangbaren Weg zu finden, der gesellschaftliches Zusammenleben wieder möglich macht.«

Marion Hinz, Kultur-Port

»Wie Vesaas diese Stimmung erzeugt, die unfassbare Nähe zu seinen verstörten und unerlösten Figuren, ist das eigentlich Sensationelle dieses Buches. Es geschieht ganz ohne metaphysischen Überbau. Der sanfte Rhythmus seiner Sprache, die einfache, aber genaue Benennung aller Gefühlsbewegungen, von Hinrich Schmidt-Henkel grandios in ein zeitloses Deutsch gebracht, erschaffen eine mythische Atmosphäre. Es ist eine Menschlichkeit in diesem Roman, die keineswegs die verstörende Wirklichkeit aufhebt, aber doch erträglich macht.«

Ulrich Rüdenauer, WDR3

»Hier ist es auch und vor allem die von Hinrich Schmidt-Henkel exzellent übertragene Sprache, die einen erschüttert und zugleich mitreißt. Die kurzen Sätze und starken Bilder entfalten ihre Wirkung sofort. (…) Vesaas findet mit seinem Roman eine sehr poetische und weise Antwort auf die Frage, wie eine schuldig gewordene Gemeinschaft überhaupt weiter machen kann. (…) Nach der Lektüre von Tarjei Vesaas’ feinem, klugem Roman möchte man allzu gerne wieder daran glauben, dass der Mensch zur Einsicht fähig ist.«

Bettina Baltschev, Deutschlandfunk Büchermarkt

»Vesaas zeigt meisterhaft, wie leicht die offenbar hauchdünne Wand zwischen zivilisierter Gesellschaft und dem barbarischen Abgrund der menschlichen Seele durchbrochen werden kann. (…) Hinrich Schmidt-Henkel hat diese ungewöhnliche Erzählung nun wieder in voller Länge neu übersetzt und zum Leben erweckt. Gerade in der jetzigen Zeit, in der Kriege und gesellschaftliche Umbrüche die Menschen in ihren Überzeugungen erschüttern, ist dieses Buch eine kluge und aufrüttelnde Lektüre, die schon fast eine Pflichtlektüre ist.«

Irène Bluche, rbb Kultur

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Tarjei Vesaas

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemäße Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und ließ sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Großstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine größten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

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